Gaming the System: Haben Fehlanreize Einfluss auf die Verspätungsmeldungen der SBB?

Kontext
Seit der Einführung eines neuen Entschädigungssystems für Zugverspätungen in der Schweiz im Jahr 2021 erhalten Fahrgäste bei Verspätungen von mehr als 60:01 Minuten 25 % und ab 120:01 Minuten 50 % des Ticketpreises zurück. Diese Regelung wirft eine zentrale Frage auf: Verleitet die Schwelle von 60 Minuten Bahnunternehmen wie die SBB dazu, Verspätungen strategisch zu melden, also «das System zu spielen», um Entschädigungszahlungen zu vermeiden?
Ziel und Aufgabenstellung
Ziel dieser Arbeit war es, das Meldeverhalten der SBB im Zeitraum 2018 bis 2024 zu analysieren und zu prüfen, ob es im Zusammenhang mit der Einführung des Entschädigungssystems zu einer systematischen Häufung von Verspätungsmeldungen knapp unterhalb der 60-Minuten-Grenze kam. Die zentrale Hypothese lautete:
«Die Einführung des Entschädigungssystems hat zu einer statistisch signifikanten Häufung gemeldeter Verspätungen knapp unter der 60-Minuten-Schwelle geführt.»
Methodik
Für die empirische Analyse wurden historische Verspätungsdaten der SBB verwendet. Zum Einsatz kamen u. a.:
- Explorative Datenanalyse mit Histogrammen, Boxplots und Dichteverteilungen
- Verteilungstests (Kolmogorov-Smirnov, Chi-Quadrat)
- Regression-Discontinuity-Design (RDD) zur Prüfung kausaler Effekte an der 60-Minuten-Schwelle
Die Analyse verglich Zeiträume vor (2018–2020) und nach (2021–2024) der Einführung des Systems.
Ergebnisse
Die Hypothese wurde nicht bestätigt. Zwar zeigen die Daten eine auffällige Häufung von Verspätungen knapp über 60 Minuten, aber keine systematische Verlagerung knapp darunter. Interessanterweise war das Muster auch bereits vor der Systemeinführung zu beobachten.
Die RDD-Analyse zeigte zwar Sprünge an der Schwelle, jedoch nicht exklusiv nach 2021. Die Verteilungstests ergaben keine signifikanten Unterschiede in der Verteilung der Verspätungen rund um die Schwelle vor und nach der Einführung des Entschädigungssystems.
Fazit
Die Arbeit liefert keine Hinweise auf strategisches Meldeverhalten der SBB. Vielmehr scheinen betriebsorganisatorische Faktoren wie der integrale Taktfahrplan eine zentrale Rolle zu spielen. Diese Erklärung sollte in weiterführenden Studien noch vertieft untersucht werden.
Für Regulatoren bedeutet dies: Aktuell besteht kein akuter Anpassungsbedarf, aber Schwellenwerte sollten weiterhin kritisch beobachtet werden.