Reverse Mentoring im Bereich der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz
Prüfung eines innovativen Lösungsansatzes
Die Herausforderungen der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz können spätestens seit der COVID-19 Pandemie kaum mehr ignoriert werden. Die Anzahl der psychisch bedingten Arbeitsausfällen nahm im Jahr 2022 massiv zu. Im Dezember 2022 bezifferte das SRF den Anstieg mit rund 15% im Vergleich zum Vorjahr. Auch aus einer globalen Perspektive wird die Relevanz der Thematik und ein klarer Handlungsbedarf ersichtlich, nicht zuletzt durch die Veröffentlichung der WHO Guidelines zur psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz im September 2022.
Obwohl viele wichtige Diskussionen zu dieser Thematik geführt werden, scheinen sich kaum greifbare Lösungen abzuzeichnen. Wenn aber klassischen Methoden nicht wirken, können womöglich innovative Ansätze den Unterschied ausmachen.
Deshalb untersuchte der Autor, inwiefern Reverse Mentoring als Lösungsansatz für die Herausforderungen der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz betrachtet werden kann. Dabei würde eine Person mit eigenen Krankheitserfahrungen ihre Expertise zum Umgang mit psychischen Herausforderungen als Mentor:in an eine Führungsperson weitergeben und der Wissensfluss eines klassischen Mentoringsettings umgedreht.
Grosse Firmen setzen in anderen Diversitythemen bereits seit mehreren Jahren auf Reverse Mentoring. Jedoch konnte während der Erarbeitung der Bachelor Thesis keine Reverse Mentoring Programme in diesem Bereich gefunden werden.
Ziele
Mit der Arbeit wollte der Autor untersuchen, inwiefern sich die Erkenntnisse aus anderen Reverse Mentoring Programmen auf die Bedürfnisse und Herausforderungen psychisch kranker Mitarbeitenden übertragen lässt.
Die Arbeit sollte ein besseres Verständnis des Reverse Mentorin Ansatzes ermöglichen und den aktuellen Forschungstand aufzeigen. Weiter sollen die Bedürfnisse und Risikofaktoren von psychisch kranken Mitarbeitenden anhand der vorhandenen Literatur analysiert und mit qualitativen Interviews besser verstanden werden. Zusammenführend erhoffte sich der Autor, Rückschlüsse über die Effektivität des Reverse Mentoring Ansatzes im Bereich der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz ziehen zu können.
Der Autor schrieb die Arbeit mit der Hoffnung, den Forschungshorizont öffnen und andere Stakeholder motivieren zu können, ebenfalls an innovativen Lösungsansätzen mitzudenken.
Die Forschungsfrage wurde folgendermassen formuliert: «Ist Reverse Mentoring ein Lösungsansatz für die Herausforderungen der psychischen Gesundheit der Mitarbeitenden?».
Methode
Anhand fünf problemzentrierten Interviews mit zwei Betroffenen, zwei Führungspersonen und einem Jobcoach wurde die Kommunikation zwischen den involvierten Parteien und die wahrgenommene Unternehmenskultur im Umgang mit psychischen Herausforderungen betrachtet. Damit der positive Effekt von Reverse Mentoring im Bereich der psychischen Gesundheit, und nicht der Altersdiversität, untersucht werden konnte, waren sämtliche Interviewteilnehmenden über 30 Jahre alt und brachten mehrjährige Berufserfahrung mit.
Ergebnisse
Die Forderungen eines Narrativwechsels wurde in der Theorie erkannt und mit den empirischen Ergebnissen unterstrichen. Durch die Krisenerfahrungen bringen betroffene Mitarbeitende wichtige Kompetenzen in die Unternehmen hinein, welche sie auf dem Arbeitsmarkt besonders qualifizieren. Dazu gehören unter anderem Resilienz und Empathiefähigeit, aber auch ein sehr grosses Wissen in der Kommunikation und im Umgang mit psychischen Belastungen anderer Mitarbeitenden. Dies zeigt sich auch dadurch, dass beide betroffenen Interviewpersonen eine inoffizielle Mentoringrolle in ihren Unternehmen einnehmen und viele Mitarbeitende mit Fragen auf sie zukommen. Dies hat aber auch einen kritischen Aspekt, weil sie dafür weder ausgebildet noch extrinsisch belohnt werden. Durch die offizielle Rolle als Mentor:innen in einem Reverse Mentoring Programm würden die Betroffenen mehr Wertschätzung erhalten, ihre Führungsfähigkeiten ausbauen können und die Möglichkeit erhalten, ihre Tätigkeit und Fachwissen offiziell im Lebenslauf aufzuführen.
Auch wenn die Forschungsfrage mit der vorhanden Literatur und der Empirie nicht abschliessend beantwortet werden konnte, können positive Annahmen zum Potenzial des Reverse Mentoring Ansatzes getroffenen werden. Der Autor sieht gerade im Bereich der Unternehmenskultur und den damit verbundenen Forderungen eines offenen Dialoges ein grosses Potenzial des Reverse Mentorings. Gerade weil Studien von Reverse Mentoring Programmen aus anderen Diskriminierungsformen zeigen, dass die gegenseitigen Vorurteile der Teilnehmenden im Anschluss abnahmen.
Die bestehenden Vorurteile gegenüber psychisch kranken Mitarbeitenden wurde jedoch als eines der grössten Risikofaktoren für den Erfolg eines Reverse Mentoring Programmes erkannt.
Die Interviews zeigten, dass die Diskriminierung von psychisch kranken Menschen nicht bei einer Anstellung enden. Die oftmals fehlende Unternehmenskultur im Umgang mit psychischen Herausforderungen und die Selbststigmatisierung der Betroffenen, erschweren den Zugang zu Führungspositionen stark.
Weiter wurde erkannt, wie schwierig eine gute Kommunikation zwischen Führungspersonen und Betroffenen ist, obwohl diese von den beiden Parteien wünschenswert wäre. Damit ein offener Dialog möglich ist, braucht es einerseits eine gelebte und auf Vertrauen basierende Unternehmenskultur, andererseits aber auch die Bereitschaft aller involvierten Personen, also auch der Betroffenen, aktiv und partizipativ zur Lösungsfindung beizutragen.
Reverse Mentoring konnte als innovativer Ansatz mit Potenzial für Veränderung erkannt werden, welcher bei der akuten Dringlichkeit noch relevanter wird. Umfassende Rückschlüsse über die Effektivität eines solchen Programmes im Bereich der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz sind anhand der Forschungsarbeit jedoch nicht möglich.
Das Ziel, den Forschungshorizont zu erweitern, konnte mit der Arbeit erfüllt werden. Ob die Arbeit auch andere Stakeholder motivieren wird, an innovativen Konzepten mitzudenken, wird sich in der Zukunft zeigen.
Handlungsempfehlungen
Damit die Forschungsfrage abschliessend beantwortet werden kann, sollten weitere Forschungen durchgeführt werden. Einerseits sollte geprüft werden, wie die Mentor:innen in einem Reverse Mentoring Programm vor belastenden, psychischen Herausforderungen bestmöglich geschützt werden können. Weiter mangelt es an empirischen Untersuchungen zur Effektivität eines Reverse Mentoring Programmes. Anhand eines Pilotprojekts könnte ein Reverse Mentoring Programm implementiert und mit quantitativen Messungen untersucht werden. Der Autor empfiehlt dazu Messungen zur Auswirkungen der Programmes auf die Diskriminierung und Stigmatisierung von psychisch kranken Mitarbeitenden, zur Veränderung der Unternehmenskultur, zu den gesundheitlichen Auswirkungen der Mentor:innen und zur Veränderung des Wissens und der Fähigkeiten der Führungspersonen.
Obwohl es wenig Forschungsarbeiten zu Reverse Mentoring gibt, setzen grosse Firmen bereits auf Reverse Mentoring. Deshalb entschied sich der Autor anhand der gewonnen Erkenntnisse Handlungsempfehlungen für die Umsetzung eines Reverse Mentoring Programmes in der Praxis abzuleiten. Der Autor erachtet eine umfassende Risikoplanung als besonders wichtig, welche einerseits die Begleitung der Mentor:in sicherstellen sollte. Andererseits sollten die Unternehmen die nötigen Massnahmen treffen, damit das Reverse Mentoring Programm auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten weitergeführt werden kann. Durch ein vorgängiges Training der Mentor:innen, können deren Fähigkeiten gefördert, deren Selbstwirksamkeit gestärkt und selbststigmatisierende Gedanken überwunden werden. Ein besonderer Fokus sollte auf den Vertrauensaufbau und die Schaffung eines sicheren Raumes gelegt werden, der ein gegenseitiges Lernen fördert. Schlussendlich dürfen die Führungspersonen auch bei einer intensiven Zusammenarbeit mit den Mentor:innen die Wertschätzung und die Förderung der anderen Mitarbeitenden nicht vernachlässigen.
Quellen:
Guidelines on mental health at work (who.int)
Neue Krankheitsbilder - Deutlicher Anstieg von psychischer Arbeitsunfähigkeit - News - SRF