ESG und Immobilienbewertung: Eine Analyse des Einflusses von Nachhaltigkeitskriterien auf die Wertermittlung von Wohnimmobilien

Einleitung / Kontext
Nachhaltigkeit hat in den letzten Jahren deutlich an Bedeutung gewonnen – auch in der Immobilienwirtschaft. Mit dem Aufkommen von ESG-Kriterien (Environmental, Social, Governance) steigen die Anforderungen an Gebäude über ihre gesamte Lebensdauer hinweg: Sie sollen energieeffizient, ressourcenschonend und sozial verantwortungsvoll sein.
Diese Entwicklung beeinflusst zunehmend auch die Immobilienbewertung. Während traditionell Faktoren wie Lage, Grösse oder Zustand im Fokus standen, spielen heute auch CO₂-Emissionen, der Einsatz erneuerbarer Energien oder soziale Aspekte eine wichtige Rolle bei der Wertermittlung.
Doch die Integration von ESG-Kriterien in die Bewertungspraxis steckt noch in den Anfängen. Einheitliche Standards fehlen, die Bewertungsansätze sind uneinheitlich und es ist unklar, welche ESG-Faktoren tatsächlich wertrelevant sind. Hinzu kommen regionale Unterschiede bei Regulierung und Akzeptanz, die eine objektive Vergleichbarkeit zusätzlich erschweren.
Problemstellung & Zielsetzung
Die zunehmende Verankerung von ESG-Kriterien (Environmental, Social, Governance) in der Immobilienwirtschaft eröffnet neue Möglichkeiten, stellt den Markt aber auch vor erhebliche Herausforderungen. Zwar bieten ESG-Aspekte die Chance, ökologische und soziale Faktoren zusätzlich zu klassischen ökonomischen Kriterien in die Bewertung von Wohnimmobilien zu integrieren. Doch gerade diese Vielfalt und Komplexität erschweren eine konsistente und objektive Umsetzung in der Praxis.
Bestehende Bewertungsmodelle fokussieren nach wie vor stark auf etablierte Faktoren wie Lage, Zustand oder Ausstattung. ESG-Kriterien werden oft nur marginal berücksichtigt, verbindliche Standards fehlen, und die Bewertung bleibt häufig subjektiv und uneinheitlich. Für Investoren wie auch für private Käufer und Mieter bedeutet das: Unsicherheit.
Unsere Bachelorarbeit setzt genau hier an. Sie untersucht, wie ESG-Kriterien heute in der Praxis der Immobilienbewertung tatsächlich angewendet werden, inwiefern dies von theoretischen Grundlagen abweicht und ob Endnutzer in ESG-orientierten Wohnimmobilien einen erkennbaren Mehrwert sehen.
Zentrale Forschungsfrage
Im Mittelpunkt unserer Arbeit steht die Frage, wie ESG-Kriterien heute tatsächlich in der Bewertung von Wohnimmobilien angewendet werden – und ob Endnutzer darin einen spürbaren Mehrwert erkennen.
Konkret untersuchen wir:
Welche Unterschiede bestehen zwischen der theoretischen und der praktischen Bewertung von Wohnimmobilien nach ESG-Kriterien – und sehen Endnutzer einen Mehrwert in dieser Art der Bewertung?
Diese Frage verbindet zwei Perspektiven: die Sichtweise der Fachwelt und die Einschätzung der Nutzer. Genau dieses Zusammenspiel ist entscheidend, wenn ESG in Zukunft nicht nur ein Begriff bleibt, sondern zur gelebten Realität in der Immobilienbewertung wird.
Methodik
Zur Beantwortung unserer Forschungsfrage haben wir einen Mixed-Methods-Ansatz gewählt, der Theorie, Praxis und Endnutzerperspektive miteinander verbindet. Dieser Dreiklang erlaubt eine ganzheitliche Betrachtung der ESG-Bewertung von Wohnimmobilien – von der wissenschaftlichen Grundlage über die Anwendung im Markt bis hin zur Wahrnehmung durch private Nutzer.
Im qualitativen Teil führten wir vier leitfadengestützte Experteninterviews mit Fachpersonen aus der Schweizer Immobilienbranche durch. Die Interviews deckten drei zentrale Themenblöcke ab: die aktuelle Bewertungspraxis im Unternehmen, den Einsatz von ESG-Kriterien in der Bewertung und persönliche Einschätzungen zu Herausforderungen und Entwicklungsperspektiven. Die Gespräche wurden aufgezeichnet, transkribiert und mithilfe eines Kodierungsleitfadens ausgewertet.
Für den quantitativen Teil entwickelten wir eine Online-Umfrage, die sich an Mieterinnen, Mieter sowie Eigentümerinnen und Eigentümer von Wohnimmobilien richtete. Ziel war es, herauszufinden, wie ESG-Kriterien von Endnutzern wahrgenommen werden und ob sie darin einen konkreten Mehrwert sehen. Die Umfrage bestand aus vier Abschnitten: allgemeinen Angaben, ESG-Vorkenntnissen, Wahrnehmung des Mehrwerts und Entscheidungssituationen. Die Befragung lief über vier Wochen, die Ergebnisse wurden mittels statistischer Verfahren und inhaltlicher Analyse ausgewertet.
Durch die Kombination beider Methoden konnten wir sowohl die Perspektive der Fachwelt als auch jene der Nutzer einbeziehen – und damit ein umfassendes Bild über den aktuellen Stand und die Potenziale der ESG-Integration in die Immobilienbewertung zeichnen.
Ergebnisse
Unsere Untersuchung zeigt: ESG-Kriterien sind in der Immobilienbewertung angekommen, werden aber noch sehr unterschiedlich angewendet. Die Expertinnen und Experten aus der Branche bestätigen, dass vor allem ökologische Faktoren wie CO2-Ausstoss, Energieeffizienz oder Heizsysteme in den Bewertungsprozess einfliessen – vor allem dann, wenn sie sich wirtschaftlich auswirken. Soziale oder unternehmensbezogene Aspekte hingegen werden meist nur indirekt berücksichtigt oder gar nicht beachtet.
Die genutzten Methoden unterscheiden sich dabei je nach Immobilientyp. Bei Anlageobjekten wird vor allem die sogenannte DCF-Methode verwendet, die langfristige Investitionen und Betriebskosten berücksichtigt. ESG-Aspekte lassen sich hier gezielter integrieren. Im Bereich Wohneigentum wird dagegen häufig die hedonische Methode angewendet, die auf Vergleichspreisen basiert. Hier ist die Einbindung von ESG-Faktoren deutlich schwieriger und erfolgt meist nur über allgemeine Markttrends.
Ein zentrales Problem bleibt die fehlende Standardisierung. ESG wird unterschiedlich interpretiert, Daten sind oft nicht vergleichbar, und klare Bewertungsrichtlinien fehlen. Viele Fachleute entscheiden individuell, ob und wie sie ESG-Faktoren berücksichtigen.
Auch die Ergebnisse unserer Online-Umfrage mit 255 Teilnehmenden liefern ein klares Bild. Obwohl nur rund ein Drittel der Befragten ESG im Zusammenhang mit Immobilien kennt, sehen mehr als 60 Prozent darin einen konkreten Mehrwert – vor allem durch Energieeinsparungen und langfristige Werthaltigkeit. Knapp 80 Prozent würden sich bei gleichem Preis und ähnlicher Lage für eine nachhaltigere Immobilie entscheiden. Besonders deutlich wird dieser Trend bei Personen mit ESG-Vorkenntnissen, die häufiger eine bewusste Entscheidung zugunsten von ESG treffen.
Insgesamt zeigen die Resultate: Die Bedeutung von ESG in der Immobilienbewertung wächst – sowohl bei Fachpersonen als auch bei Endnutzern. Was fehlt, sind klare Standards, bessere Daten und eine verständliche Kommunikation. Das Potenzial ist da – aber der Weg zu einer einheitlichen und fairen ESG-Bewertung ist noch nicht abgeschlossen.